Inhalt
1. Lebendigkeit als Schockerfahrung 11
2. Traditionelle Porträts 16
3. Leonardos Porträts 20
4. Warum sie? 30
5. Die Brücke 32
6. Leonardos Lebensmotiv 36
7. Noch einmal: Warum Lisa? 38
8. Die geistige Führung des Menschen 47
9. Allegorie und Symbol 49
10. Die Heilige Anna Selbdritt 52
11. Die Reihe der religiösen Bilder Leonardos 55
12. Himmelfahrt 78
13. Die Archäologie der «Mona Lisa» 85
14. «In grenzenloser Gnade» 88
15. Johannes 94
Nachwort 98
Vorwort
Die Mona Lisa im Pariser Louvre zieht täglich enorme Besuchermassen an. Vor dem COVID-19-Debakel von 2020 wurde geschätzt, dass der Louvre täglich etwa 30.000 bis 40.000 Besucher empfing. Auf der anderen Seite können etliche Menschen mit der Mona Lisa absolut gar nichts anfangen. Sie verstehen den Hype um dieses Bild nicht und schütteln darüber den Kopf. Eine Bekannte sagte mir einmal: «So schön ist sie doch gar nicht! Sexiest woman ever painted? Dann doch wohl eher die «Madonna» von Edward Munch oder der Siebdruck der «Marylin Monroe» von Andy Warhol, aber doch nicht die Mona Lisa. Ihretwegen stundenlang in der Schlage vor dem Musée du Louvre stehen? Wegen einem Lächeln? Absurd!» Nun, was wirklich denkbar absurd ist, ist der Maßstab größtmöglicher sexueller Attraktivität. Dieser Maßstab sagt in Wahrheit mehr über die Kriterien des Betrachters und unserer Zeit aus als über das Bild.
Da nun aber die Mona Lisa das berühmteste Gemälde der Welt ist und als die größte Attraktion des Museums gilt, sehen sich zwar nicht alle, aber doch die meisten Besucher während ihres Aufenthalts vor allem dieses Bild an. Schätzungen zufolge täglich 20.000 bis 30.000 Menschen. Zu besonderen Zeiten oder während der Hochsaison sind es noch mehr. Die Folge: Ein einzelner Besucher kann im Durchschnitt nur 30 Sekunden und maximal eine Minute vor dem Bild stehen und es betrachten. Was sieht man in einer Minute? Das hängt davon ab, wie gut man sehen gelernt hat. Viele machen nur ein Foto. Manche von sich. Neben oder vor dem Bild.
Wem eine Minute zu wenig ist, der findet in Aberhunderten von Büchern zur Renaissance, zu Leonardo und zur Mona Lisa sehr gute Reproduktionen, er findet Postkarten und Poster in allen Größen, die man, wenn man will, mit viel Zeit betrachten kann. Was sieht man mit mehr Zeit?
Ein einzelnes Bild isoliert nur für sich zu betrachten kann sehr bewegend sein und oft auch erfüllend, aber es gibt eine simple Methode, die ein Bild tiefer aufschließen kann. Welche?
Der große Naturwissenschaftler, Goetheanist und Anthroposoph Thomas Göbel [1928 – 2006] lehrte zu seiner Zeit im Carus-Institut in Öschelbronn: «Betrachte nie ein einzelnes Naturphänomen isoliert für sich. Betrachte es immer im Zusammenhang einer Reihe von Phänomenen. Bringe die verschiedenen, aber zusammengehörigen Naturphänomene in eine sinnvolle Ordnung, dann spricht sich das einzelne Phänomen selbst aus durch den Kontext, in dem es steht.»
Was Thomas Göbel in der Nachfolge Goethes methodisch gegenüber einem Naturphänomen als Rat gab, das gilt auch für Phänomene der Kunst: Das Bild Mona Lisa – isoliert für sich betrachtet – sagt zwar schon viel, auch in 30 Sekunden, aber nicht so viel wie im Kontext von verschiedenen Reihen. Ich werde im Folgenden drei solcher Reihen aufspannen.
Die erste Reihe besteht aus der Porträt-Malerei der Zeit vor Leonardo und zu seiner Zeit sowie aus den Porträts, die Leonardo selbst, aber zeitlich vor der Mona Lisa gemalt hat.
Die zweite Reihe stellt das Bild in den Zusammenhang seiner Gemälde mit religiösem Inhalt.
Die dritte Reihe zieht die Ergebnisse der «Archäologie» zur «Mona Lisa» heran.
Archäologie? Man hat seit 1906 mit immer feineren Methoden das Bild untersucht: mit Röntgenstrahlen, mit der Infrarot-Reflektografie (IRR), mit Ultraviolett-Fluoreszenz (UV-Fluoreszenz), mit Terahertz-Bildgebung, mit spektroskopischen Verfahren (wie Raman- und Röntgenfluoreszenz-Spektroskopie, mit einem 3D-Laserscanning, mit der Layer Amplification Method (LAM).
Jeder Kubik-Mikrometer der «Mona Lisa» ist heute kartografiert und in seinen chemischen Strukturen bekannt. Von jedem Pinselstrich weiß man, in welcher Schicht er mit welchen Substanzen aufgetragen wurde. Für einen künstlerischen Blick sind die dabei zutage gebrachten Befunde natürlich sekundär, aber es gibt auch Befunde, die mich elektrisiert haben, weil sie für ein Verständnis aufschlussreich sind. Dazu gehört zum Beispiel die scheinbar harmlose Entdeckung, dass die Mona Lisa zu Anfang insgesamt 12 Haarnadeln getragen hat. Irgendwann aber muss sich Leonardo entschieden haben, den Schmuck zu übermalen. Ich glaube zu verstehen, warum, und werde darauf eingehen, genauso wie auf die Grundierung mit Bleiweiß und nicht etwa - wie damals üblich – mit einfachem Weiß oder mit einem Rot-Ton wie in einer französischen Kopie aus dem 17. Jahrhundert.
Unvorstellbar viel Forscherfleiß und Forscher-Hingabe wurden in jeden Aspekt des Werkes investiert. So wurde zum Beispiel die Biografie der abgebildeten Frau, Lisa del Giocondo [1479 – 1542], akribisch rekonstruiert, samt Eltern, Schwiegereltern, Großeltern und Kindern, deren Lebensläufen man nachgegangen ist, so weit es noch möglich war. Selbstverständlich blieb es auch nicht aus, in Frage zu stellen, ob es wirklich Lisa del Giocondo ist, die dargestellt wurde, oder nicht doch die Herzogin d‘Este oder sonst wer.
Nebenbei: Was bedeutet der Name «Mona» Lisa?
«Mona» ist die Abkürzung von «Madonna», frz. «Madame». Also: «Mona Lisa» = «Meine Dame Lisa» oder heute schlicht «Frau Lisa».
Am Ende aber hängt alles ab von der Brille, durch die man ein Bild sieht. Jeder betrachtet ein Bild unweigerlich auf der Basis seiner Voreinstellungen. Das heißt nicht zwingend, dass die Brille, durch die man ein Bild sieht, dieses Bild verfälscht. Es gibt Brillen, durch die man überhaupt erst etwas sieht, und es gibt Linsen, die chromatische Aberrationen und geometrische Verzeichnungen erzeugen – bis hin zu dunkel getönten oder farbigen Brillen. Die Frage ist deshalb: Bin ich mir meiner Brille bewusst? Und: Durch welche Brille will man ein Bild sehen?
Ich werde Leonardos Bild aus einer religiösen Perspektive betrachten, genauer: aus einer anthroposophisch-christologischen Perspektive. Ich halte diese Perspektive für angemessen angesichts des Sachverhalts, dass die Mehrzahl der Gemälde Leonardos religiöse Inhalte hat.
Freilich, das muss nicht jeder so sehen. Es handelt sich um meine Brille. Sie hat für mich ein tief berührendes Ergebnis gebracht, nachdem ich lange Jahre rein gar nichts mit dem Bild der Mona Lisa anfangen konnte, so berühmt es auch sein mochte. Anderen Betrachtern bleibt es unbenommen, meine Brille zu verwerfen und eine gänzlich andere aufzusetzen. Deshalb muss man nicht gleich einen Brillen-Streit entfachen. Die optische Brille vom Augenoptiker, die ich seit Jahren trage, passt auch nur mir. Bei anderen erzeugt sie Verzerrungen. Bei geistigen Brillen ist das anders. Sie können auch für andere Menschen etwas sichtbar machen, nicht nur für mich. Für diese Menschen ist das vorliegende Büchlein geschrieben. Es geht um eine Entdeckung, die ich «Leonardos geheime Offenbarung» nenne.